Nachhaltigkeit im Marketing – Greenwashen wir uns selbst?

von Daniel Hofmeier

Wir schreiben 2022, der Klimawandel ist nicht mehr nur eine theoretische Größe in den Köpfen mancher, sondern harte Realität für viele. Überschwemmungen, Hitzewellen, Brände – die Liste ließe sich ewig weiter führen. Wir haben ein Problem, so viel ist sicher. Und laut IPCC Bericht haben wir den Pfad Richtung 1,5 Grad schon lange verlassen. 

Sustainability – Nachhaltigkeit ist also das Gebot der Stunde. Nur so viel verbrauchen, wie nachwächst, oder anders – keinen Schaden anrichten. Was so einfach klingt, ist natürlich alles andere als einfach. Für uns als Einzelpersonen, aber erst recht für Unternehmen. Wie dem Druck des Wachstums standhalten, die eigenen Kunden zufriedenstellen und dann auch noch nachhaltiger werden? Eine schier unmögliche Aufgabe. Aber eine der wir uns stellen müssen, sind Unternehmen doch die Haupttreiber der CO²-Emmissionen weltweit. 

Es ist ein Thema in Cannes

Nur logisch also das Sustainability auch auf den diesjährigen Cannes Lions Thema ist. Schaut man sich die diesjährigen Festival-Themen der Cannes Lions an, steht Nachhaltigkeit sogar an erster Stelle. Zu diesem Schluss kam wohl auch das diesjährige LIONS State of Creativity Survey:

855 of respondents said that creativity centered around sustainability is either critical or very important to business today. Out of the six themes listed, sustainability was identified as the most important topic on the creative agenda today.”

Es zahlt sich aus, grün zu sein: Wie also können Marken Nachhaltigkeit auf authentischere und wirkungsvollere Weise vermitteln? Das ist die Frage, die das Festival den Delegierten stellt, die 2022 in Cannes zusammenfinden. Eine Interessante Frage. Als Kreative, die entweder auf Unternehmensseite im Marketing oder eben in Agenturen und Produktionen als Dienstleister tätig sind, befinden wir uns ja in einer interessanten Position. Wir sind die kommunikative Schnittstelle zwischen Unternehmen, die nachhaltiger werden müssen und den Kunden, denen Nachhaltigkeit immer wichtiger zu werden scheint. 

Es ist also unsere Aufgabe, den Unternehmen (oder dem eigenen) zu erklären, dass es unternehmerisch sinnvoll ist, nachhaltig zu handeln. Das wäre unser positiver Effekt nach innen. Durch unsere Kommunikation zum Kunden haben wir die Möglichkeit, aufzuzeigen, warum es sinnvoll ist, nachhaltige Produkte zu bevorzugen. Das wäre unser positiver Effekt nach außen. Nur wenige Menschen haben einen Job, der diese beiden Möglichkeiten in sich vereint. Wir können also einen Unterschied machen!

Sustainability als Aufgabe

Das sehen auch dieses Jahr nicht wenige in Cannes so. Im Vortrag „It’s Not Climate Change, It’s the Everything Change“ darf Txai Surui, eine indigene Klimaaktivistin, die schon vor der UN ihr Anliegen vortrug, in einem brennenden Plädoyer erzählen, wie wichtig es ist, endlich etwas Konkretes zu tun.

Und im Vortrag „By 2030 Every Ad Will Be a Green Ad“ wurde feierlich verkündet, dass rund 18 namhafte Unternehmen, darunter Google, Sky, Meta, dentsu und einige mehr ab 2030 klimafreie Ads produzieren wollen.

Es passiert also etwas in Cannes. Die Werber und die Marken scheinen zu begreifen. Nachhaltigkeit, ja gar die Klimakatastrophe, hat eine Stimme. Wir haben eine Aufgabe liebe Mitkreative, Agenturen und Marketingbeauftragte. Oder? ODER?

Die Aufgabe ist klar. Warum passiert also nichts?

Nun könnte man sagen, hey super, wir haben es verstanden! Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst. Los geht’s, ab an die Umsetzung. Wir hier in Cannes sind ja die Speerspitze des Marketing. Alle großen Marken sind hier. Die wichtigen Personen in Führungspositionen von Coca Cola, Unilever, Adidas, NIKE, IKEA, Activision Blizzard, Amazon, Lego, IBM, Microsoft, UPS, Vice, Samsung, Google, McDonalds, Spotify, Nestle, Disney, Pepsi, Meta, TikTok, Paypal, Pinterest, Dove, Red Bull, Mastercard, Twitter, LinkedIn, Netflix, Hyundai uvm* reichen sich die Hand in stiller Einigkeit zum Thema Nachhaltigkeit. Warum sollte das nicht funktionieren?

Schöner Gedanke, aber das passiert hier nicht. Das Thema Nachhaltigkeit ist nicht relevant. Das fühlt man hier in jedem Vortrag und wohin man auch geht auch zwischen den Zeilen. Moritz Schreiner hat dieses Gefühl in seinem Blogbeitrag ja bereits hervorragend beschrieben. Und das ist nicht nur gefühlt so, das lässt sich auch bestätigen, wenn man sich die Zahlen dazu ansieht…

Der Realitycheck

Nachhaltigkeit ist Top-1-Thema in Cannes, das sagen auch 855 Personen aus dem LIONS State of Creativity Survey. Wenn dem so ist, wie passt dann das diesjährige Festivalprogramm ins Bild? 

Im Folgenden eine Aufzählung der Programmpunkte nach Kategorien**:

  1. Creative Effectiveness – 65
  2. Data, Tech & Innovation – 54
  3. Diversity Equity & Inclusion – 36
  4. All about the Work – 27
  5. Business Transformation – 26
  6. Talent – 28
  7. Members-Only – 18
  8. A Call to Action – 13
  9. Sustainability – 12

Aus 279 Programmpunkten sind ganze 12 Veranstaltungen dem Thema Nachhaltigkeit gewidmet. Das sind nur knapp 4 % des gesamten Programms 2022. Wie passt das zusammen?

Jetzt könnte man sagen, nun gut, ist ja nur das Programm. Cannes Lions ist und bleibt ein Event bei dem Preise verliehen werden. Preise für herausragende Produktionen. Produktionen, die der angesprochenen Wichtigkeit unserer Position ins Unternehmen und zu den Kunden gerecht werden.

Nun ja, was soll ich sagen. Schauen wir auch hier auf die Zahlen. Es werden 28 Awards in verschiedenen Kategorien verliehen. Lediglich einer davon beschäftigt sich mit dem Thema Sustainability.

Und verstehen wir uns nicht falsch, mir ist schon bewusst, dass sich nicht alle Kategorien „die nachhaltigste Produktion“ lauten können. Aber wie wäre es denn, wenn zumindest alle eingereichten Produktionen nachhaltig sein müssten, um überhaupt einen Preis gewinnen zu können? Das hätte Lenkwirkung, das entspräche der Wichtigkeit eines Top-Themas in Cannes.

Und ja, im Sinne der Vollständigkeit sei erwähnt: Jährlich 15.000 Delegierte aus über 90 Ländern für eine Woche ins schöne Cannes einzubestellen, wovon die meisten – uns Delegierte aus Baden-Württemberg eingeschlossen – mit dem Flugzeug anreisen, ist vielleicht auch nicht gerade die Definition von Nachhaltigkeit. Geschenkt.

Die Sache mit dem Greenwashing

Was mich in meiner Reise nach Cannes wirklich verrückt macht, und das macht es noch viel schlimmer, ist dass die Cannes Lions eine wirklich schöne Veranstaltung sind. Kreative treffen sich, inspirieren einander, feiern Erfolge und gehen mit neuen Ideen auseinander. Diese Art von Empowerment spürt man selten. Man möchte Dinge bewegen, Dinge verändern.

Das scheint sich beim Thema Nachhaltigkeit aber nicht durchzusetzen. Selbst im erwähnten Vortrag „It’s Not Climate Change, It’s the Everything Change“ wird nach dem Plädoyer von Txai Surui ohne weitere Erwähnung ihrer Ansprache zum Thema Web 3.0, NFTs und Kryptowährungen gewechselt. Sie sind die Heilsbringer der Nachhaltigkeit. Geschickt, dann lässt sich mit Nachhaltigkeit ja auch super Geld verdienen. Gedankengang Ende. Weiter geht es nicht. Könnte, aber will hier keiner. Lieber glaubt man seinem eigenen Greenwashing.

Mein quasi Fazit

Ich glaube uns täte etwas Demut gut. Wenn wir in Cannes zusammenkommen und unsere Erfolge feiern, sollten wir ein realistischeres Bild davon zeichnen. Vielleicht ist das auch meine griesgrämige Sicht aus’m Ländle auf die große, internationale Herangehensweise an das Thema Marketing. Aber schlussendlich hilft es uns ja nichts. Es reicht nicht nur weiter Buzzword-Bingo zu spielen, Ziele in weiter Ferne zu definieren, uns in den eigenen scheinbaren Sustainability-Erfolgen zu sonnen. 

Was zählt, sind Taten und vor dieser Aufgabe dürfen sich gerade die oben genannten Unternehmen nicht länger verstecken. Greenwashing ist out. Marketing muss ehrlicher werden. Das Storytelling muss ehrlicher werden, nur dann wird einem auch geglaubt. Und das ist widersinnigerweise ja genau das Ziel, das alle erreichen wollen. Wir in unseren Positionen haben es in der Hand. Ich befürchte nur, dass gerade die Unternehmen, die am meisten dazu beizutragen hätten, in diesem Spiel nicht mitspielen wollen.

Und so gilt weiterhin: We could make a difference, but we didn’t…

*die Liste ist unnötig lang. Das tut mir leid, liebe*r Leser*in. Es zeigt aber sehr gut, wie unfassbar unwirklich das alles ist.

** Die Zahlen ändern sich ständig, da tagesaktuell das Programm geändert wird. Die Grundaussage bleibt aber dieselbe.