It’s all about people

Von Tobias Köhler

Die Cannes Lions – das große Kreativfestival, von dem in diesem Blog die Rede ist – sind mir auf Anhieb unsympathisch. Es geht um Preise, Party, Protz. Alles ist eine Nummer zu groß (die Repräsentanz von Meta ähnelt einem überambitionierten schwäbischen Autohaus), zu laut (ich hasse Veranstaltungen, bei denen man einander anschreien muss), zu selbstreferentiell (nee, nicht noch ein Nachsatz in einer Klammer).

Das Ganze ist in etwa so subtil wie eine Marching-Band, die Debussy spielt.

Es dauert also eine gewisse Zeit, bis ich mich eingegroovt habe. Warum ich trotzdem begeistert und inspiriert nach Stuttgart zurückgereist bin? Wegen der Menschen, die ich – auf die eine oder andere Art – getroffen habe. Manche habe ich nur aus der Ferne, aus dem Publikum, erlebt. Mit anderen bin ich die halbe Nacht vorm Hotel gesessen.

Deshalb hier meine ganz persönliche Shortlist der Cannes Lions:

Yaroslava Gres.

Yaroslava Gres beginnt ihren Vortrag mit einem Scherz. „Letztes Mal als ich hier war, habe ich mir gewünscht, einmal hier oben auf der Bühne zu stehen“, sagt die 39-jährige Werberin. „Jetzt bin ich hier und habe gelernt: Formuliere deine Wünsche an das Schicksal möglichst konkret.“ Da sitzt sie nun, vor rund 2500 Menschen im proppenvollen Saal „Lumière“, dem größten im sogenannten Palais von Cannes. Anders als sie es sich vorgestellt hat, nimmt Yaroslava Gres keinen Preis, keinen goldenen Löwen, entgegen. Sondern berichtet, wie ihr Leben in den vergangenen Monaten verlaufen ist. Viele Jahre hat sie in einer Kreativagentur in der Ukraine gearbeitet. Heute kämpft der CEO des Unternehmens – ihr Bruder – als Soldat, sie selbst kümmert sich um die Initiative „United24“ (https://u24.gov.ua/), die Geld zur Unterstützung ihres Landes sammelt. Mehr als 58 Millionen Dollar hat die Organisation in den vergangenen Monaten eingesammelt. Yaroslava Gres trägt ihre Geschichte – ebenso wie die meisten ihrer ukrainischen Co-Referent:innen – sehr sachlich und unemotional vor. Sie will kein Mitleid. Sie fordert Unterstützung von der Welt.

Keith & Agatha.

Keith und Agatha haben natürlich einen Nachnamen. Ich kenne ihn schlicht nicht. Obwohl wir sicher sechs, sieben Stunden gesprochen haben. Meistens spät nachts vorm Hotel, wenn wir von irgendwelchen Events zurückgekommen sind. Die beiden sind verheiratet, er ist Brite, sie Deutsche. Kennengelernt haben sie einander in London. Er verkauft Content-Konzepte für British Airways, sie „Product Integration“, wie sie es nennt. Wir würden Product-Placement dazu sagen – und wenn ihr in der „Apple TV+“-Serie „The Morningshow“ gesehen habt, wie sich Jennifer Aniston mit einem xxx-Fön (Firmenname bekannt) die Haare gestylt hat: Das hat Agatha eingefädelt. Inzwischen leben die beiden in Bremen bei der Schwiegermutter, der Brexit ist schuld. Es ist nicht einfach, weder die Sache mit dem Brexit, noch die mit der Schwiegermutter (die kein Wort Englisch spricht). Ich haben in diesen Nächten viel erfahren und noch mehr gelernt. Über Branchensachen. Darüber, wie es ist, eine Beziehung zu führen, wenn die Politiker:innen den Verstand verlieren. Und über britischen Humor.

S.

Ich bin nach Cannes gefahren, um national und international Kontakte zu knüpfen. So hat man mir meine Mission erklärt. Ich habe tatsächlich einige eingefädelt. Die meisten manifestieren sich in der Kontaktaufnahme in sozialen Netzwerken. Ein paar auch in der Übergabe von Visitenkarten („Austausch“ trifft es nicht, denn ich besitze schlicht keine). Die von der sehr schlauen Dame, die für ein soziales Netzwerk arbeitet (das sich inzwischen als „Entertainment-Plattform“ betrachtet) und von einem ebenso sympathischen wie interessanten brasilianischen Filmemacher habe ich in mein digitales Adressbuch eingetragen; die des sich unangenehm anbiedernden deutschen Filmemachers habe ich heute weggeworfen (sorry!). Was mir vorher keiner gesagt hatte: Die spannendsten Menschen, die ich kennengelernt habe, sind die aus meiner Reisegruppe. Stellvertretend für sie möge der Kollege S. stehen. S. hat sowohl einen Vornamen als auch einen Nachnamen, beide kenne ich. Sie tun aber nichts zur Sache. Was sehr wohl zählt: Nach gelinden Anlaufschwierigkeiten haben wir eine verdammt großartige Zeit in Cannes zusammen verbracht. Das mag für Außenstehende in den weniger fluffigen Phasen den Anschein eines zu lange verheirateten Ehepaars erweckt haben (siehe bzw. höre hierzu Folge zwei unseres Podcasts), in den besten Momenten hatte es etwas von Statler und Waldorf aus der Muppet Show. Ich möchte jedenfalls keinen Moment mit S. und unserer Reisegruppe missen.

Danahe, Pablo & Carolina.

Ich bin leider ein sehr schlechter Südamerikaner. Erstens spreche ich nur rudimentär Spanisch (VHS-Kurs läuft aber!), zweitens besitze ich die Bewegungsanmut eines Zombies, drittens ist es für mich schon eine echte Anstrengung, bei der „120-Minuten-Party“ der BW-Lions wildfremde Gäste anzusprechen und herzlich zu begrüßen. Deshalb verliebe ich mich auf Anhieb in die legendäre „Tantor-Party“ – ausgerichtet von der gleichnamigen Filmproduktionsfirma, einer der größten in Südamerika – in einer Villa in den sogenannten Hills von Cannes (jeder Stuttgarter würde angesichts des jämmerlichen Hügels milde lächeln). Es vergehen keine fünf Minuten, ohne dass eine:r der Gastgeber:innen – Danahe, Pablo & Carolina – vorstellig wird und uns begrüßt, sich nach unserem Wohlbefinden erkundigt und sich geduldig alle unsere Geschichten anhört. Wir fühlen uns, als würden wir schon lange dazugehören. Dazu gibt es das weltbeste Asado – perfekt von Cristobal und Fernando zubereitetes Fleisch vom Grill. So viel Herzlichkeit, Lebensfreude und Leichtigkeit habe ich selten zu spüren bekommen.

Das Wichtigste zum Schluss.

Da dies der vorerst letzte Eintrag in unserem Reisetagebuch (aka Blog) ist, obliegt es mir, Danke zu sagen. Und das ist mir eine große Freude. Natürlich allen mir namentlich bekannten und unbekannten Sponsoren sowie allen mir – selbstverständlich präsenten – institutionellen Möglichmacher:innen unserer Reise – der MFG, BW-I und der Filmcomission Region Stuttgart. Insbesondere aber den fantastischen Organisator:innen der Gruppenreise an die Côte d’Azur: Vanessa, Nina, Jens, Laura und Kathrin. Ohne (solche) Menschen wäre das alles nicht möglich gewesen. Und das wäre wirklich schade.