von Steffen Vetterle
Mit Erwartungen auf Spurensuche
Mit großer, halbjähriger Vorfreude darf ich als BW-Lions-Delegierter, Kreativschaffender und Lehrender mein Bundesland nun endlich hier am globalen Kreativnabelschauort vertreten, um diese Atmosphäre, deren diversen Begleiterscheinungen aufzusaugen sowie etliche Menschen kennenzulernen: Vetterleswirtschaft zu betreiben. „The Länd“ is now Cännes! als Motto. Der Auftrag: Spuren und Sporen BWs hier in Cannes zu finden. Sozusagen: Wo ist das schwäbisch-badische Momentum an der Côte in dieser Woche?
Im Spiegel der Kulturauffassungen
Diese Spuren befinden sich in meinen Augen nicht da außen. Sicherlich lassen sich Bezüge zu BW-Brands, Projekten, Agenturen, Menschen im/am größten Kreativ-Wettbewerbspreis weltweit finden. Ferner gibt es im alltäglichen Gebrauch wie bei uns auch schwäbische Fortbewegungsmittel, Kleidung, ebenso wie Toiletten, Roséflaschen, Internet, Mobile Devices und Metaverse… was mich zur Herangehensweise einer Spiegelung unserer selbst – acht Schwaben und ein Badener – veranlasst, nicht dem französischen mythosbehafteten Ort gegenüber, sondern der Veranstaltung als solcher. Und dadurch Fragen von vorherrschender Popkultur, Werten, Innovation, dem Verhältnis von Creativity/Economy und deren Kommunikation aufwirft.
Au Plage: die Belegung der medialen Strandkörbe und das kommunikative Menüangebot im Beach Club
Das Festival hat bekanntlich seine britannischen Wurzeln und wird seit längerem durch die Präsenz amerikanischer Tech-Konzerne dominiert. Auch in diesem Jahr belegen Amazon, Google, Meta, etc. die strategischen Eckpunkte an der Croisette um das postmodern-brutalistsch eklektische Kongresszentrum herum. Dessen architektonische Außenwirkung wird glücklicherweise durch Mega-Billboards nahezu verdeckt, innen bietet es aber überraschenderweise erstklassige Großtheaterräume, großzügige Erschließungen und weitere Bühnen-Plattformen wie die Terrace Stage mit vorzüglicher Aussicht. Aufgefüllt wird die Anordnung außen mit eigenen Ständen von Filmproduktions-, Medienfirmen und Agenturnetzwerken wie Whalar, Medialink (welche ich größtenteils noch nie gehört hatte) sowie den KKK-Spitzmützenzelten vor den exklusiv gemieteten Luxusjachten im Hafen. Europäische oder gar asiatische Companys sind mit Ausnahme von Telekom, RTL, Spotify und TikTok nicht vertreten. Dementsprechend spricht man „American English“, welches dann selbstredend und -verständlich als „Mind“ vorherrscht. Der Stadtraum, die Stadtsilhouette und die Küstenlandschaft Cannes’ fungiert darin als landschaftlicher Backdrop, wofür sich Cannes oberflächlich leider auch nur eignet. Nizza is vibrant und diverser, Antibes pittoresker. Spannend und viel entspannender zum Network sind dann zahlreiche Villa-Partys in den Cannes Hills. Kurzum, also bis auf die explizit amerikanische Note ein relativ übliches Kongresstreiben und -umtreiben wie in anderen Branchen an anderen Orten auch.
Alles voll gut hier in der Polical-Correctness-Bubble
Erwartungshaltungen und der BW-Spiegel: Ein enormes Angebot an Keynotes, Speaches und Insights mit diesjährigen Schwerpunkt-/Modethemen wie Gender, Inklusion, Diversity, Metaverse, Storytelling und Sustainability finden tagsüber statt. Abends dann das eigentliche Beef, um welches dieses Kongressangebot in den letzten Jahren aufgebaut wurden: hervorragende Kreation bei den Award-Shows.
Jeder der Vorträge ist konkret an einen der Sponsoren und dort anderweitig sichtbaren Großkonzern gekoppelt. Eine Verknüpfung von Business, Geld und Kreation ist seit kulturellem Menschengedenken obligat und einander bedingend, jedoch sind wirklich disruptive, unabhängige Stimmen und Meinungen nicht vorhanden. Die verheißungsvollen Titel der Speeches lösen sich für unseren wissbegierigen, forschenden Ländledrang nicht ein, sondern werden in American Politcal Correctness und entertainender Form mit Kooperations- und Namedropping in seichten Strandgewässertiefen vorgetragen. Also alles voll gut, sexy und happy-preppy hier in der perfekten Welt, genau wie in Disneys Reich. Wenn mal halt dazugehören darf. Alles als Erkenntnis nicht neu, irgendwie doch stellenweise mehr oder minder enervierend.
Verschiedene kulturelle Auffassungen von Social Responsibilty
Einer meiner Grundsätze, welche ich auch meinen Student:innen und Kolleg:innen gerne predige: „Designer:innen haben eine soziale Verantwortung“. Der Umgang und das Aufgreifen von gesellschaftlich höchst relevanten Themen wie den oben genannten, erfolgt ebenfalls über dem Teich in einer anderen, weitaus lockereren, dramatisch-drastischeren Form mit wohlwollend-hoffnungsvollerem Ende, als bei uns oft so ernsthaft. Eine Kooperation mit einem z.B. afroamerikanischen Rolemodel bietet beiderseitige Synergien und Reichweiten. Den Unternehmen verpasst das einen anderen kommunikativen, zeitgemäßeren Anstrich und verleiht ihnen so-called Relevanz und Credibility, der Initiative hoffentlich einen Boost durch einen Big Player. So funktioniert Business und Play. Ein strategischer Interessensaustausch – vollkommen okay. Selbstverständlich wird auch Product Integration oder -Placement geil zelebriert, wodurch Szenen und Plots von Netflix- oder Amazon-Serien beeinflusst werden. Jedoch hat das Festival und die Awards selber – wie andere Designpreis-„Ratingagenturen“ im Hinblick auf monetäre Gesichtspunkte ebenso – seine Kategorien erweitert. So gibt es neuerdings z.B. auch die Kategorie Creative Strategy, Innovation und Creative Effectiveness. In meinem Verständnis sollte eine durchdachte Kommunikationslösung diese Parameter bereits als Bewertungskriterium beinhalten. Exzellente Kreation muss u.a. strategisch gedacht, innovativ und nachhaltig und nicht nur für den Moment funktionieren. Wenn asiatische, ärmliche Fischer für einen Tag zum kompetitiven Plastik- statt zum Fischfang gescheucht werden, oder sozial ähnlich gelagerte Menschen im Pazifik aus Korallen das Wort „Hope“ auf den Meeresgrund basteln, findet hier ein imperialistischer Akt statt, aber keine nachhaltige Lösung. Und kein Gold, welches morgen verblasst. Überraschenderweise wird sogar in Nachrichtensendungen darüber berichtet, es werden Millionen-Klickraten erreicht und doch wird mit dieser Aktion die Welt kein Bisschen ins Positive verändert. Auch solche Mechaniken sind nicht neu, aber zum Glück konnten wir überwiegend hervorragend hintersinnige, spaßige und exzellente exekutierte Arbeiten erleben. Die Pampers-Kampagne, eine innovative Windel als Poonami-Alert zu bezeichnen, klammern wir hier aus. Derlei zitierte Naturphänomene haben zum Glück an US-amerikanischen Küsten noch nicht stattgefunden… und trifft kollateral auch keine asiatischen Plastikfischer. Falls der/die eine oder andere Leser:in hier eine offenkundig formulierte Pseudo-Systemkritik des Turbokapitalismus vermutet – ganz klares NEIN! LCD-Soundsystem im Amazon Port war megageil. Ich liebe Entertainment und Emotionen! Und dass in Europa technologische Entwicklungen und Wachstumspotenziale verpennt wurden, ebenso wie Zugänge zum WWW, Wolken und Angebote amerikanisch belegt sind… so ist es halt. Für jeden fraglich, wie man damit weiter umgeht.
Das richtige Maß finden. Was können wir und wo wollen wir hin?
Worauf ich hinaus will: Das Festival sollte uns vor Augen halten und uns spiegeln, wie nicht nur wir Kreativschaffenden als auch die Bürger:innen Baden-Württembergs und Europas unsere Werte sortieren und definieren, ebenso unseren Umgang mit gesellschaftlichen und geschäftlichen Themen. Wir sollten mehr Mut an den Tag legen, stolzer über unsere innovativen Erzeugnisse kommunizieren. Weniger Verharren, schneller, spontaner und weniger bedenkenträgerisch sein. Sonst schluckt uns vermeintlich bald auch noch das Metaverse, was aber in diesem zusätzlichen, sich in Zukunft etablierenden Marketing-Kanal vornehmlich für jüngere Zielgruppen nicht passieren wird. Aber lasst uns damit spielen! Und weiter tüfteln und in die Zukunft denken. Wir können stolz auf das sein, was wir in THE LÄND machen!
Was exzellente Kommunikation leisten muss und warum sie mehr denn je notwendig ist.
Über die hier verhandelten Zeitgeist-Themen, welche vollkommen richtig von Unternehmen und Industrien aufgenommen und unterschiedlich verwertet werden, lassen sich sicherlich einige Kollegen noch tiefer und fundierter aus. Ein bereits seit langem in unserem kulturellen Raum angekommenen Verständnis, nicht nur auratische Produkte und Konzerne in den Mittelpunkt, sondern über diverse Angebote den/die Nutzer:in auf das Produkt und die Marke Einfluss nehmen zu lassen (Heinz: Draw Ketchup), muss lebensnotwendig weiterverfolgt werden. Genauso muss – nicht sollte – eine ernsthafte Auseinandersetzung von Industrie und Gestaltung mit gesellschaftlichen Themen wie z.B. Inklusion, Diversität, Umwelt und demokratischen Werten passieren. Mittels klarer, starker, maßvoll und klar verständlicher Kommunikation. In Form von emotional-ehrlichem Storytelling (Penny), spaßig-schlau (Samsung: The Spider), poetischer Träumerei (Burberry) ansatzweise wirklichem Benefit (Ikea: Discover the Originals) und längerfristig gedacht ( Ikea: Buyback Friday) und praktiziert. Ich habe die Hoffnung, dass nach der kommunikativ, visuellen und digitalen Sea of Sameness der letzten Jahre, sowie momentan nicht nur einerseits eine ehrliche Balance zwischen digital und analog passieren muss. Es ist an der Zeit, out-of-the-box zu kommunizieren. Der Ukraine-Konflikt sollte uns aufrütteln, uns direkter, mutiger und klarer zu positionieren. Die ergreifenden Statements und Lebens-Geschichten von vier ukrainischen Kreativschaffenden im Umgang mit dieser Tragöde rütteln wach, machen traurig. Wir müssen aktiv und achtsam bleiben! Auch mal das immer weniger werdende Geld für Kreation für Zufälle, Experimente, Mut und Scheitern zur Verfügung stellen. Denn niemand ist perfekt, auch nicht wir Kreativen, nicht die Industrie. Lasst uns Quatsch machen, Freude haben und uns nicht mit zunehmender zahlengetriebener Gestaltungsverwaltung quälen und das in schlechte, verdruckte Kompromisse ausarten. Wer nicht sinnvoll kommuniziert und wirbt, der stirbt.
Die Zukunft der Branche und warum ein echter Ort zum Treffen? Darum!
Doch wer macht noch Gestaltung? Warum, in welcher Form und mit welchem Ziel? Der Fachkräftemangel stellt wie in anderen Branchen auch in die globale Kreativwirtschaft vor zunehmende Probleme. Auch Tech-Konzerne wie z.B. Amazon und Microsoft beschäftigen sich trotz teilweiser Entlassungen in Keynotes damit, wie die Agentur der Zukunft aussieht? Die Menschen, die Jugend werden sicher mehr und mehr vereinzeln und in Netzwerken agieren und denken. Dafür braucht es echte Treffpunkte und Anlässe, wo in direktem Gegenüber Geschäfte, Freundschaften und zukünftige Kooperationen in den Zwischenmomenten, Pausen, mit einem Roséglas in der Hand am Strand usw. ermöglichen.
Einfach nur: Danke!
Daher: Sehr viel getankt hier, was noch weitergehend verarbeitet werden muss.
Ich bin meinem Bundesland herzlich dankbar für diese Gelegenheit, die sinnig, verstörend, spaßig, diskursiv und geil ist.
Was am Ende bleibt, sind die Menschen und Freundschaften. Ich denke, davon habe ich der tollen Gruppe einige gefunden. Und auch über unsere Gruppe hinaus. Es lebe die Live-Begegnung!